Ramelow und Wagenknecht: Wie Die Linke die Politik der „Herdenimmunität“ verfolgt

Der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) ist nach eigener Aussage bekennender Christ. Als solcher kennt er die Gestalt des reuigen Sünders, von dem es im Lukas-Evangelium heißt, über ihn gebe es „im Himmel mehr Freude als über 99 Gerechte, die keine Reue nötig haben“. Und er weiß sie politisch zu nutzen. Ein Reue-Bekenntnis kostet nichts und verpflichtet zu nichts, kann aber politisch hilfreich sein, wenn einem das Wasser bis zum Hals steht.

Bodo Ramelow (Bild: Steffen Prößdorf / CC BY-SA 4.0)

Am 8. Januar bekannte sich Ramelow in mehreren Interviews zu seinen „Irrtümern“ in der Corona-Politik.

Er habe das Gefährdungsmoment des Virus falsch eingeschätzt, sagte er MDR aktuell. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) habe den heftigen Anstieg der Infektionszahlen schon im Oktober vorausgesagt. „Die Kanzlerin hatte Recht, und ich hatte Unrecht.“ Er habe sich zu lange davon leiten lassen, dass leichtere Methoden helfen würden. Nun sehe er keine Alternative zu einem Wirtschaftslockdown mehr, um die Neuinfektionen wirklich nach unten zu drücken. Bisher hätten Gastronomen, Einzelhändler, Kulturschaffende und Kinder die Last getragen. Nötig sei aber, insgesamt die allgemeine Wirtschaft anzuhalten.

Der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erklärte Ramelow: „Ich ganz persönlich ärgere mich heute, dass ich im November innerlich nicht bereit war, zu sagen: Den Dezember mit seinen vielen Feiertagen nutzen wir bundesweit für eine Generalpause. Alles, was nicht lebensnotwendig ist oder systemisch nicht abgestellt werden kann, hätte vier Wochen lang angehalten werden müssen.“

Und im ZDF-heute journal ergänzte er: „Ich merke, dass bei mir in Thüringen gerade die Hütte brennt. Heute ist für mich ein schlimmer Tag. Denn heute haben wir in ganz Thüringen die 300er-Inzidenz überschritten, und alle Landkreise und kreisfreien Städte sind über die 200 gegangen. Es ist kein Platz mehr für Lockerungen und die Debatte von der Lockerung zur Lockerung.“

Welch eine Schmierenkomödie. Ramelow hat sich nicht geirrt, sondern schlicht gelogen. In voller Kenntnis wissenschaftlicher Studien und internationaler Erfahrungen, die die Gefährlichkeit des Virus belegten, hatte Ramelow das ganze Jahr über eine führende Rolle dabei gespielt, die Pandemie zu verharmlosen und Schutzmaßnahmen dagegen zu unterlaufen. Wie für die Bundesregierung und alle anderen Landesregierungen hatten auch für den einzigen Ministerpräsidenten der Linkspartei die Profite Vorrang vor Menschenleben. Er hat sogar versucht, die anderen darin zu übertreffen.

Ende Mai spielte Ramelow den Vorreiter beim Aufheben selbst der minimalsten Beschränkungen – wie Abstandhalten und das Tragen von Masken. Bereits zuvor hatte seine Regierung die Kreise und Städte angewiesen, in eigener Regie über die Öffnung von Restaurants, Bädern, Kinos, Fitnessstudios, Indoor-Sportanlagen, Bars, Tanzstudios, Freizeitparks und Bordellen zu entscheiden. Er leitete damit die verhängnisvolle Entwicklung ein, die in ganz Deutschland mittlerweile über 40.000 Menschen das Leben gekostet hat.

Ende Oktober, als die Infektionskurve wieder steil nach oben stieg, pries Ramelow in der Talkshow „Maybrit Illner“ das „schwedische Modell“ der Corona-Politik. Schweden verfolgte eine Politik der „Herdenimmunität“, die alle ernsthaften Wissenschaftler ablehnten. Sie hat zu einer Katastrophe geführt. Von den 10 Millionen Einwohnern des Landes haben sich mittlerweile eine halbe Million angesteckt, fast 10.000 sind gestorben, und die 7-Tage-Inzidenz ist mit 515 eine der höchsten der Welt.

Auch für Thüringen selbst hatte Ramelows Politik katastrophale Folgen. Von den etwas mehr als 2 Millionen Einwohnern haben sich über 50.000 nachweislich infiziert, mehr als 1350 sind an Covid-19 gestorben. Im Verlauf der letzten Woche haben sich jeweils 324 von 100.000 Einwohnern angesteckt. Das ist nach Sachsen die zweithöchste Inzidenz in Deutschland und mehr als sechs Mal soviel wie der vom RKI angegebene Höchstwert, bei dem eine Nachverfolgung der Infektionsketten noch möglich ist. Mit anderen Worten: Die Pandemie ist völlig außer Kontrolle.

Ramelows Eingeständnis, er habe die Gefahr „falsch eingeschätzt“, ist nichts weiter als ein schäbiger Versuch der Schadensbegrenzung, ein Versuch, die wachsende Empörung über eine Politik aufzufangen, die Menschenleben dem Profit opfert. Entsprechend wurde es in den Medien gelobt. So kommentierte die Süddeutsche Zeitung, Ramelows „höchst ungewöhnliches Eingeständnis“ helfe, „Risse in der Gesellschaft“ zu kitten. Es zeige „einen Weg aus der Konfrontation auf, heraus aus einem Wettstreit der Rechthaber, den niemand braucht, und der schon einigen Schaden angerichtet hat“.

An Ramelows Politik wird das Eingeständnis dagegen absolut nichts ändern. Dafür sorgen schon seine sozialdemokratischen und grünen Koalitionspartner, die CDU, auf deren Stimmen seine Minderheitsregierung angewiesen ist, sowie die Wirtschaftsverbände. Sie alle haben gegen einen weitergehenden Lockdown protestiert, und Ramelow hat noch nie etwas gegen ihren Willen getan. Was die Linkspartei selbst betrifft, so geht sie überall dort, wo sie in der Regierung ist oder war, ebenso rücksichtslos gegen die Interessen der breiten Bevölkerung vor, wie alle anderen Parteien.

Das thüringische Kabinett hat am 5. Januar ebenso wie alle anderen Bundesländer beschlossen, die völlig ungenügenden Maßnahmen vom Dezember bis zum 31. Januar zu verlängern und – vor allem im Bereich der privaten Kontakte – leicht zu verschärfen. Die Betriebe bleiben offen; das Kabinett „appelliert“ lediglich an sie, die Produktion einzuschränken und, wo es geht, Homeoffice zu ermöglichen. Schulen und Kitas sollen am 1. Februar wieder öffnen und bieten schon jetzt eine Notbetreuung an – damit die Eltern zur Arbeit gehen und der Wirtschaft zur Verfügung stehen.

Wie rechts die Linkspartei in der Corona-Frage steht, zeigt auch die jüngste regelmäßige Kolumne von Sahra Wagenknecht im Magazin Focus. Wagenknecht, die auch nach dem Rückzug von ihren Führungsämtern zu den tonangebenden Stimmen in der Linkspartei zählt, hetzt in AfD-Manier gegen die geltenden Schutzmaßnahmen und vertritt in kaum verhüllter Form eine Politik der Herdenimmunität.

Ein Lockdown sei gegen die Pandemie „schlicht die falsche Medizin“, behauptet sie. Die Einschränkungen seit November und deren Verschärfung im Dezember hätten „in den Krankenhäusern kaum Erleichterung gebracht“. Der Hinweis, „ohne die Maßnahmen wäre alles sicher noch viel schlimmer“, sei rein „spekulativ“. Am Ende bleibe „nur eine Bilanz: Der Lockdown, so wie er beschlossen wurde, hat mit Blick auf die Infektion kaum etwas gebracht, aber er hat verheerende Folgen für Wirtschaft und Arbeitsplätze, für die Innenstädte und für das kulturelle Leben.“

Wagenknecht gibt zwar zu, „dass neben dem privaten Bereich die wichtigsten Übertragungen am Arbeitsplatz und auf dem Weg dahin stattfinden“. Doch eine Schließung der Betriebe, um zu verhindern, „dass sich jeden Tag Millionen Menschen in Bus und Bahn und an ihren Arbeitsplätzen begegnen“, lehnt sie strikt ab: „Ein solcher Weg würde die Infektionszahlen sicher verringern, für die wirtschaftliche und soziale Situation in unserem Land wäre er allerdings noch problematischer als der, den wir bisher gegangen sind.“

Wie alle Verfechter der Herdenimmunität schlägt Wagenknecht vor, statt der ganzen Bevölkerung nur die Alten in den Pflegeheimen vor dem Virus zu schützen – was sich in der Praxis längst als undurchführbar erwiesen hat –, und eine Durchseuchung der restlichen Bevölkerung zu ermöglichen.

Selbst die Konzentration auf die Entwicklung von Impfstoffen kritisiert sie: „Zu einer sinnvollen Alternativstrategie gehört schließlich, nicht mehr einseitig auf die Förderung von Impfstoffen zu setzen, bei denen bis heute nicht klar ist, ob die Immunisierung länger als sechs Monate anhält und ob es bisher unbekannte langfristige Nebenwirkungen gibt, die vor allem für jüngere Menschen ins Gewicht fallen.“ Stattdessen, so Wagenknecht, „hätten sehr viel größere Anstrengungen und sehr viel mehr öffentliche Gelder in die Entwicklung von Medikamenten investiert werden müssen, die schwere Corona-Verläufe und mögliche Folgeschäden verhindern“.

Also: Lasst die Bevölkerung krank werden, mildert die Symptome und ergreift einige symbolische Maßnahmen zum Schutz der Alten – darauf läuft Wagenknechts Vorschlag hinaus. Dass dies zusätzliche zigtausende Menschenleben kostet, hat die Entwicklung in Schweden, Großbritannien, den USA und anderen Ländern, in denen eine solche Politik praktiziert wurde, längst bewiesen. Doch auch für Wagenknecht gilt: Die Wirtschaft und ihre Profite haben Vorrang vor dem Leben der Menschen. Das ist der Kern der Corona-Politik der Linkspartei.

Loading