250 Jahre: Die Aktualität von Ludwig van Beethoven

250 Jahre nach der Geburt Ludwig van Beethovens begeistern und erfreuen sich Millionen Menschen rund um die Welt an seinem Werk. Seine Musik hat den engeren, europäischen Kulturkreis, in dem er lebte und wirkte, längst durchbrochen. Sie ist zur universellen Stimme der Menschheit geworden und findet, angeregt durch begeisterungsfähige Musiker, auch in der jüngeren Generation wachsenden Anklang. Beethoven ist, neben Mozart, der meistgespielte und meistgehörte Komponist unserer Zeit.

Beethoven-Portrait von Joseph Karl Stieler 1820

Was erklärt die Aktualität von Beethovens Musik? Warum fasziniert sie Menschen jeden Alters weit über die Klassik-Fangemeinde hinaus?

Um diese Frage zu beantworten, muss man die Zeit betrachten, in der Beethoven lebte. Auch wenn die beiden nicht voneinander zu trennen sind, wuchs Beethoven als Künstler weit über den Menschen Beethoven hinaus. Tiefer als jeder andere verlieh er einer Epoche Ausdruck, in der die Menschheit mit Riesenschritten vorwärtsstürmte, einer Zeit, die alle kulturpessimistischen Vorstellungen widerlegte, wonach der Mensch nur zu Gewalt und Barbarei fähig sei. Sein Werk ist unauslöschlich mit dem Kampf für die Befreiung der Menschheit verbunden.

Beethoven war fünf Jahre alt, als die Vereinigten Staaten von Amerika ihre Unabhängigkeit erklärten, und sechzehn, als sie eine Verfassung verabschiedeten, die die Förderung des „allgemeinen Wohls“ und die Bewahrung des „Glücks der Freiheit“ zu ihrem Ziel erklärte. Er war achtzehn, als die Pariser Volksmassen die Bastille stürmten und eine Entwicklung in Gang setzten, die sämtliche europäischen Throne ins Wanken brachte. Und er war vierundvierzig, als mit Napoleons Niederlage in Waterloo die politische Restauration einsetzte.

Doch Beethoven passt sich nicht an. In den letzten zwölf Jahren seines Lebens schuf er Werke, die sowohl in inhaltlicher wie formaler Hinsicht weit in die Zukunft wiesen, die Konventionen seiner Zeit sprengten und höchste Humanität mit einem radikalen Willen zur gesellschaftlichen Veränderung verbanden.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der im selben Jahr wie Beethoven geboren wurde und zahlreiche Aufführungen seiner Werke hörte, schrieb rückblickend über die Epoche der französischen Revolution:

Solange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, dass der Mensch sich auf den Kopf, das ist, auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut. (...) Es war dieses somit ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen. (Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte)

Man könnte diese Zeilen als Motto über das Werk Beethovens stellen. Er appelliert an den Idealismus der Menschheit und an ihre Hoffnung auf eine bessere Welt. Er inspiriert zum Kampf gegen alle Formen der Unterdrückung und zur Verwirklichung der Freiheit, der er viele seiner Werke widmete – so die Oper „Fidelio“ mit der Arie des Florestan und dem Gefangenenchor [1] und die monumentale „Ode an die Freiheit“, die seine Neunte Sinfonie abschließt. [2] Das verleiht Beethovens Musik in der heutigen Zeit, in der die kapitalistische Gesellschaft nur noch soziale Ungleichheit, Diktatur, Krieg und Zerstörung hervorbringt, eine außergewöhnliche Anziehungskraft und Aktualität.

Ein Leben in revolutionärer Zeit

Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789

Ludwig van Beethoven wurde am 17. Dezember 1770 in Bonn getauft. Seine Vorfahren waren belgisch-flämische Kleinbauern und Händler. Sein Großvater und Vater waren Musiker bei der Bonner Hofkapelle. Der Versuch des Vaters, seinen Sohn schon mit vier Jahren am Klavier und an der Violine in ein musikalisches Wunderkind nach dem Vorbild Mozarts zu verwandeln, scheiterte an dessen rebellischem Verhalten. Gleichzeitig erhielt Beethoven deshalb keine höhere Schulbildung, was er später beklagte und versuchte, autodidaktisch nachzuholen.

Der frühe Tod der Mutter und die Rolle seines Vaters, der zunehmend dem Alkohol verfiel und sehr labil war, machten die Familienverhältnisse und die finanzielle Lage schwierig.

Beethovens wichtigster Lehrer für Klavier und Orgel war Christian Gottlob Neefe, der ihn mit dem Werk von Johann Sebastian und Carl Philipp Emanuel Bach vertraut machte und auch mit aufklärerischem Gedankengut beeinflusste. Bei einem ersten Studienaufenthalt in Wien, den ihm Neefe und Beethovens erster Mäzen Graf Waldstein 1787 ermöglichten, begegnete er Mozart. Dieser soll gesagt haben: „Dieser Jüngling wird noch viel in der Welt von sich reden machen.“

Zurück in Bonn, nahm Beethoven regen Anteil an den Debatten über Philosophie und Politik. Im Weinhaus „Zehrgarten“ der Frau Wittib Koch traf er sich regelmäßig mit jungen Bonner Intellektuellen und Künstlern, die über die Französische Revolution, über Schriften und Dichtungen von Kant, Herder, Schiller, Klopstock, Wieland und Goethe diskutierten.

Der junge Beethoven übte bereits in dieser Zeit als Pianist und Organist, noch nicht so sehr als Komponist, große Anziehungskraft aus. Seine eigenständige und neue Art des Spiels mit überraschenden Improvisationen fesselte seine Zuhörer.

Auch in Wien, wohin er 1792, ein Jahr nach Mozarts Tod zurückkehrt, erregt er Furore als Pianist. Es gibt viele Berichte, wie Beethoven über die konventionelle, elegante Spielweise hinausging, über vorgegebene Themen improvisierte oder frei fantasierte. Schon hier wird ein neuer Tonfall deutlich, der auch in seinen Kompositionen aufhorchen ließ.

Carl Czerny, Beethovens Schüler, erzählt in seiner Autobiographie von einem Konzert im Jahr 1799, das sein Vater besucht hatte, und in dem ein bekannter Pianist namens Gelinek in Konkurrenz zu dem „fremden Clavieristen“ auftrat. Danach antwortete Gelinek auf die Frage, wie der Kampf ausgefallen sei, ganz niedergeschlagen: „Oh! An den gestrigen Tag werde ich denken! In dem jungen Menschen steckt der Satan. Nie habe ich so spielen gehört! Er fantasierte auf ein von mir gegebenes Thema, wie ich selbst Mozart nie fantasieren gehört habe. Dann spielte er eigene Compositionen, die im höchsten Grade wunderbar und großartig sind, und er bringt auf dem Clavier Schwierigkeiten und Effecte hervor, von denen wir uns nie etwas haben träumen lassen.“ (Zitiert nach Dieter Rexroth: Beethoven. Monographie, Mainz 1982, S. 59)

Mit knapp dreißig Jahren begann Beethovens Gehörleiden, das später auf ein durch Rattenflohbiss erzeugtes Fleckfieber zurückgeführt wurde. Er gab seine pianistische Karriere nach und nach auf und konzentrierte sich auf Komposition. Von seiner persönlichen Krise zeugt das Heiligenstädter Testament von 1802, in dem er sich über Suizidgedanken äußert. Ab 1818 soll er komplett taub gewesen sein, was der amerikanische Musikwissenschaftler Theodore Albrecht allerdings Anfang 2020 in Zweifel zog. Eine Neubewertung der „Konservationshefte“ Beethovens, in denen er mit Freunden kommunizierte, zeigte, dass der Komponist zumindest auf dem linken Ohr bis kurz vor seinem Tod noch etwas hören konnte.

Die mittlere Periode

Beethoven 1812, gefertigt von Franz Klein nach einem Gipsabdruck seines Gesichts

In der Zeit von 1803 bis 1812 war Beethoven ungeheuer produktiv und seine Popularität wuchs trotz anfänglicher Ablehnung seines „neuen Stils“. Zugleich machte ihm sein Misserfolg bei der Suche nach einer Ehefrau schwer zu schaffen. Sein berührender „Brief an die Unsterbliche Geliebte“ (1812) galt vermutlich der verwitweten Josephine von Brunswick, die seinen Ehewunsch wegen der geltenden Standesregeln nicht erfüllen konnte.

Beethovens Schaffenszeit von 1802 bis 1814 wird oft als „heroische Periode“ bezeichnet, im Unterschied zum Spätwerk ab 1815. Die Bezeichnung lehnt sich an die Dritte Sinfonie von 1803, die „Eroica“, an. Beethoven hatte sie ursprünglich Napoleon gewidmet, die Widmung dann aber durch die Worte „zum Andenken eines großen Mannes“ ersetzt, angeblich weil er über die eigenhändige Kaiserkrönung Napoleons empört war.

Der Begriff „heroisch“ kann aber leicht missverstanden werden. Beethoven ging es nicht vorrangig um die Verherrlichung einzelner Heroen. Vielmehr offenbaren die Werke dieser Zeit eine emotionale Komplexität, die die gesamte menschliche Erfahrung umfasst. Hatten seine frühe Werke formal noch an die beiden großen Klassiker Mozart und Haydn angeknüpft, beschritt er nun neue Wege. 1820 notierte er in einem Konversationsheft: „Wahre Kunst ist eigensinnig, […] lässt sich nicht in schmeichelnde Formen zwängen.“ (zitiert nach Rexroth, S. 519) So gelang es ihm, universelle Erfahrungen, Stimmungen und Emotionen in Musik zu fassen.

Beethoven zählt zu den intellektuell anspruchsvollsten und nachdenklichsten Musikern. Die strukturelle Komplexität, die „logische“ Entwicklung seines thematischen Materials – von anfänglich einfachen Impulsen zu monumentalen Aussagen – weisen ihn als größten Zeitgenossen des Dialektikers Hegels aus, der zur selben Zeit die deutsche idealistische Philosophie vollendete.

Beethovens Partituren mit ihren unzähligen Durchstreichungen und Korrekturen zeugen vom Ringen des Komponisten, das dynamische Potenzial – oder die universelle Wahrheit – zu entdecken, das sich selbst in der kürzesten Folge von Musiknoten verbirgt. Seine Kompositionen werden von einer inneren Logik vorangetrieben und vermitteln auf kraftvolle Weise ein Gefühl der thematischen Unvermeidbarkeit. Der Komponist, von dem oft gesagt wird, er habe die Subjektivität in die Musik eingeführt, gibt nicht nur den Stimmungen und Gefühlen eines Individuums, sondern den Bestrebungen und Leidenschaften der Menschheit – der objektiven Wahrheit – Ausdruck.

Auch hier wird die Verwandtschaft zu Hegel deutlich. Das folgende Zitat aus dessen „Wissenschaft der Logik“ erklärt das Prinzip der dialektischen Bewegung in Beethovens Musik: „Der Fortgang ferner von dem, was den Anfang macht, ist nur als eine weitere Bestimmung desselben zu betrachten, so daß das Anfangende allem Folgenden zu Grunde liegen bleibt, und nichts daraus verschwindet.“

Beethoven besaß die Fähigkeit, aus einem simplen Motiv – dem aus drei Achteln auf G und einem langgezogenen Es bestehenden Schicksalsmotiv der 5. Sinfonie – einen vielschichtigen Sinfoniesatz zu entwickeln, der bis heute zu den erfolgreichsten der Musikgeschichte zählt. [3] Oft wurde ihm deshalb vorgeworfen, er habe – im Gegensatz etwa zu Mozart – nicht zu den großen Melodikern gezählt. Doch das trifft nicht zu. Er komponierte Passagen von unübertroffener Schönheit – die „Mondscheinsonate“, den dritten Satz des „Erzherzog-Trios“, den Gefangenenchor in Fidelio, die expressiven Sätze der späten Klaviersonaten, um nur einige zu nennen.

Die Klaviersonaten

Autograph der "Mondschen-Sonate" op. 27 Nr. 2, 3. Satz (Bild: Beethoven-Haus Bonn)

Beethoven hat ein umfangreiches Werk hinterlassen. Allein die Werke mit Opuszahl belaufen sich auf 138, wobei viele mehrere Stücke umfassen. Darunter befinden sich neun Sinfonien, fünf Klavierkonzerte, ein Violinkonzert, die Oper „Fidelio“ mit vier verschiedenen Ouvertüren, zwei Messen, zweiunddreißig Klaviersonaten, sechzehn Streichquartette, zehn Violinsonaten, fünf Cellosonaten sowie zahlreiche weitere kammermusikalische Werke mit verschiedenen Besetzungen. Hinzu kommen weitere 228 katalogisierte Werke ohne Opuszahl.

Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, auch nur ansatzweise auf dieses gewaltige Opus einzugehen, das fast ausnahmslos aus Meisterwerken besteht. Einen guten Einblick geben aber Beethovens 32 Klaviersonaten, die er – die ersten in früher Jugend, die letzten fünf Jahre vor seinem Tod – für sein „eigenes“ Instrument schrieb. Sie stellen sozusagen Beethovens Musik-Labor dar, in dem er mit musikalischen Formen experimentierte, auf denen er auch seine Orchester- und Kammermusikwerke aufbaute. Jede dieser Sonaten ist anders, hat ganz eigene, originelle Strukturen und Klangmotivik.

Beethovens Sonaten stellen bis heute für jeden Pianisten eine künstlerische und technische Herausforderung dar. Es gibt denn auch kaum einen großen Pianisten, der sie nicht eingespielt hätte – von Busoni, Paderewski, Schnabel, Backhaus, Rubinstein, Richter, Gilels, Brendel, Gould, Argerich, Barenboim bis zu einer neuen Generation großartiger Pianisten auf der ganzen Welt. Obwohl Beethoven Verzierungen, Tempi und Dynamik präzise angibt, unterscheiden sich alle Einspielungen voneinander. Es gibt keine „autoritative“ Interpretation seines Werks. Es spricht für dessen Tiefe und Universalität, dass erst der Interpret, der seine eigenen, zeitbedingten Erfahrungen und Impulse einfließen lässt, ihm seine volle Bedeutung gibt.

Bereits die erste Sonate op. 2,1, f-Moll, aus dem Jahr 1794, die Beethovens Lehrer Joseph Haydn gewidmet ist, setzt neue Maßstäbe. Kurze, abgehackte Tonfolgen, Triller und melodische Motive wechseln mit überraschenden Momenten der Stille ab. Die tragenden Motive werden gleich dreimal wiederholt und erzeugen damit eine große Dringlichkeit und Spannung. [4]

Später variiert er die Zahl der Sonatensätze, mal vier, am Ende nur zwei. Bei den Lautstärken lässt er nur noch die Gegensätze Piano oder Forte, Pianissimo oder Fortissimo gelten, die oftmals schroff und überraschend aufeinanderfolgen. Ebenso wechseln geschmeidig singende mit schwungvoll tänzerischen und manchmal gewaltsamen, hämmernden Rhythmen und Tempi.

Zu den bekanntesten Sonaten der mittleren Periode zählen die „Sturmsonate“ (1802) und die „Appassionata“ (1805). Auf die Frage nach dem Grund für den Namen „Sturmsonate“ soll Beethoven auf Shakespeares Drama „Der Sturm“ verwiesen haben. Auch wenn Beethoven keine Programmmusik oder sinfonische Dichtung im Stil der späteren Romantik geschrieben hat, kann man sich gut vorstellen, wie der vertriebene mailändische Herzog Prospero auf einer einsamen Insel sitzt und einen Sturm entfacht. Da rollen die Wellen mit einem dunklen Dreiton-Gewoge im Bass, und spritzt die Gicht mit perlenden hellen Dur-Arpeggios und Triller der rechten Hand. [5]

Wie unterschiedlich und vielfältig Beethovens Sonaten sind, zeigen die beiden anderen Werke von Opus 31 (1802 bis 1804), in die die mitreißende, atemlose Sturmsonate eingebettet ist. Die Sonate op. 31,1 ist voller Witz und Schalk, die Sonate op. 31,3 besonders melodisch und zärtlich. Beethoven hatte Sinn für Humor, auch für Theatralik und wusste den Hörer zu packen.

Die „Appassionata“ ist ein Höhepunkt an revolutionärer Dramatik und düsterer Leidenschaft. Sie ist viel orchestraler als die „Sturmsonate“ und geht fast über den Umfang des Klaviers hinaus. Zu Beginn steigen aus einem leisen, fahlen Hintergrund, ähnlich einem Streichertremolo, die hellen Klänge des ersten Themas wie eine Oboe oder auch Klarinette auf. Am Ende ertönen die oberen und unteren Extreme am Ende der Tastatur, als wollte der Komponist über die bestehende aufgewühlte Welt hinausweisen. [6]

Die Vorstellung, das Genie Beethoven habe nach einem Waldspaziergang den Finalsatz gleich in die Tasten geschrieben, wie es manch ein romantischer Musikkritiker behauptet, entspricht allerdings nicht der Realität. In Wahrheit liegt der „Leidenschaftlichen“, der „Appassionata“, eine sehr genaue konzeptionelle Arbeit zugrunde, so wie den anderen Kompositionen. Die ungeheure Spannung des Finalsatzes wird kunstvoll erzeugt. Durch insistierende Betonung, Wiederholungen, Luftholen in kurzen Pausen, Weiterrennen und atemloses Vorwärtsdrängen entsteht das Gefühl einer Unausweichlichkeit, bis erst in den letzten Takten losgelassen wird, ein Klangwirbel ungebremst nach oben steigt und abrupt mit kurzen tiefen Akkorden abbricht.

Einige Musikkritiker interpretieren diese Sonate als das Aufbegehren eines verzweifelten Individuums gegen sein Schicksal, das sich am Ende in den Tod stürzt, und verweisen auf Beethovens Verzweiflung über sein Gehörleiden. Doch diese rein subjektive Interpretation trennt das Werk von den revolutionären Umbrüchen der Epoche, in der es geschrieben wurde. Aus der „Appassionata“ ist herauszuhören, wie die Welt aus den Fugen gerät. Hier wird besonders deutlich, wie weit sich Beethoven von den letzten Werken Mozarts wegbewegt hat, in denen bereits die Dissonanzen der aufbrechenden alten Ordnung anklangen.

Wladimir Iljitsch Lenin nannte die Appassionata seine Lieblingssonate: „Ich kenne nichts Schöneres als die Appassionata und könnte sie jeden Tag hören. Eine wunderbare, nicht mehr menschliche Musik! Ich denke immer mit Stolz: Seht einmal, solche Wunderwerke können die Menschen schaffen!“

Das Spätwerk

Aufführung der Neunten Sinfonie in London, Daniel Barenboim, West-Eastern Divan Orchestra

In Wien wurde Beethoven von aristokratischen Gönnern wie Erzherzog Rudolph, Fürst Lobkowitz und Fürst Kinsky gefördert. Mit der Besetzung Wiens durch die Truppen Napoleons 1809 verschlechterte sich allerdings seine finanzielle Lage. Einige Adelsfreunde verließen Wien, die Fürsten Kinsky, Lichnowsky und Lobkowitz starben bald; die französischen Offiziere, die seine Konzerte und seine ersten Fassungen der Oper Fidelio besuchten, brachten seiner Musik keine Bewunderung entgegen.

Mit der Niederlage Napoleons und dem Beginn der Metternich-Ära 1814/15 entstand für Beethoven eine widersprüchliche Lage. Er, der den ein Jahr älteren Napoleon verehrt hatte, erhielt nun Aufträge für patriotische Kompositionen von höfischen Napoleon-Gegnern, wie beispielsweise die Schlachtensinfonie „Wellingtons Sieg“, die 1814 zusammen mit der Siebten Sinfonie bei frenetischem Siegesjubel aufgeführt wurde.

Mit dem Wiener Kongress 1814/15 setzte die europaweite Restauration ein. Der österreichische Außenminister Fürst von Metternich, der den Kongress dominierte, wurde zum Kopf der europäischen Reaktion und führte in Wien ein repressives Zensur- und Spitzelsystem ein.

Um Beethoven wurde es danach einsamer. Er konnte sich mit dem neuen Geschmack der oberen Wiener Gesellschaft nicht anfreunden, die eher der biedermeierlichen Genrekunst, der romantischen Oper und den Unterhaltungsopern von Rossini und Virtuosenstücken von Niccolo Paganini zugeneigt war. Neben den Gelegenheitskompositionen, die Beethoven nicht ablehnen konnte, arbeitete er intensiv an seinen Spätwerken.

In dieser Zeit entstanden solche unsterblichen Kompositionen wie die Missa solemnis, die Diabelli-Variationen, die Bagatellen op. 119 und op. 126, die Achte und Neunte Sinfonie, die späten Klaviersonaten und die fünf späten Streichquartette. Sie stießen in völlig neue künstlerische und formale Dimensionen vor, die bei den meisten Zeitgenossen auf Unverständnis stießen.

Die späten Klaviersonaten eroberten sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts einen Platz im pianistischen Repertoire. Von der „Hammerklaviersonate“ op. 106, die laut einem ihrer besten Interpreten Alfred Brendel „nach Umfang und Anlage weit über alles hinaus“ geht, „was auf dem Gebiet der Sonatenkomposition jemals gewagt und bewältigt wurde,“ galt lange Zeit als unspielbar und wurde erst Jahrzehnte nach Beethovens Tod von Franz Liszt zum ersten Mal öffentlich aufgeführt. Die musikalische Bedeutung der späten Streichquartette wurde sogar erst im 20. Jahrhundert voll erfasst.

Andere Werke feierten noch zu Beethovens Lebzeiten Erfolg. So wurde die Neunte Sinfonie, an der er sechs Jahre lang gearbeitet hatte, am 7. Mai 1824 in Wien uraufgeführt, nachdem 30 Wiener Musiker und Musikliebhaber schriftlich an Beethoven appelliert hatten, seine neuesten Kompositionen nicht länger unter Verschluss zu halten. Es war das letzte Konzert, bei dem der Komponist selbst anwesend war und mit dem Rücken zum Publikum vor dem Orchester gesessen haben soll. Am 26. März 1827 stirbt Beethoven mit 56 Jahren. Auf dem Weg zum Grab wird er von 20.000 Menschen begleitet.

Biografen und Musikwissenschaftler interpretieren Beethovens Spätwerk meist als Hinwendung zur Subjektivität, als Abkehr von der Welt und Rückzug in seelische Innenräume, die vor allem seiner wachsenden Taubheit zuzuschreiben seien. Diese Interpretation ist nicht stichhaltig, trennt sie Beethovens Werk doch völlig von der gesellschaftlichen Entwicklung, der er vorher so machtvoll Ausdruck verliehen hatte.

Als künstlerisches Genie reagierte Beethoven auf die um sich greifende politische Reaktion, indem er seine bisherige Arbeit vertiefte, die Grenzen der Musik erweiterte und die Zukunft vorbereitete. Dabei verlieh er nicht nur menschlichen Emotionen und Stimmungen einen universalen Ausdruck, wie es ihn in der bisherigen Musik nicht gegeben hatte. Er griff auch auf musikalische Formen wie Fuge, Kontrapunkt und Variation zurück, die der „objektivste“ aller großen Komponisten, Johann Sebastian Bach, zur Vollendung gebracht hatte. Die Fuge im vierten Satz der „Hammerklaviersonate“ und die „Große Fuge“ op. 133 für Streichquartett sind dafür herausragende Beispiele. [7] Beethovens Diabelli-Variationen op. 120 gelten neben Bachs Goldberg-Variationen bis heute als größtes Werk der Variationskunst.

Im kürzlich erschienenen Buch „Ludwig van Beethoven – Musik für eine neue Zeit“ betont auch der Musikwissenschaftler Hans-Joachim Hinrichsen, dass Beethovens Musik „über alle Entwicklungsphasen hinweg den Kontakt zur Gedankenwelt seiner eigenen Jugend nicht verloren“ habe. Seine Musik sei nicht einfach der Ausdruck der eigenen Subjektivität, sondern eine „tönende Auseinandersetzung mit der Ideenwelt seiner Zeit“, insbesondere mit den Aufklärungsgedanken von Immanuel Kant, mit der Poesie Goethes und der Ästhetik und Dramatik Schillers. Das gilt auch für das Spätwerk, aus dem neben viel Nachdenklichem, Tragischem, auch Verzweifeltem die jugendlich-optimistischen Töne immer wieder durchdringen.

Um einen Eindruck von der Universalität und Vielschichtigkeit von Beethovens Spätwerk zu erlangen, empfehlen wir dem Leser einen Vergleich von zwei Einspielungen seiner letzten Klaviersonate, op. 111. Da ist zunächst eine Liveaufnahme der letzten drei Sonaten, die Swjatoslaw Richter 1963 in Leipzig einspielte. Er bringt die Zerrissenheit, die Unruhe, aber auch die zärtliche Intimität der Sonaten zum Ausdruck, wie es wohl kein anderer Pianist außer ihm je vermochte, und treibt sie bis an die Grenze des Erträglichen. Die andere stammt von Alfred Brendel, der stärker die klassischen Qualitäten des Werks betont.[8]

Kontroversen um Beethoven

Beethoven-Büste von Hugo Hagen, basierend auf der Totenmaske

Ein derart komplexes und umfassendes Werk wie das Beethovens blieb auch von Missbrauch und Fehlinterpretation nicht verschont.

So versuchten Anhänger des bismarckschen Polizeistaats, des wilhelminischen Militarismus und der Nazis Beethovens zutiefst humanistisches Werk als Begleitmusik zu ihren unmenschlichen Verbrechen zu missbrauchen. Bismarck schwärmte von der „Appassionata“, sie stärke seine militärische Tapferkeit, und der Dirigent Hans von Bülow wollte gar, dass die Eroica-Sinfonie „dem Bruder Beethovens, dem Beethoven der deutschen Politik, dem Fürsten Bismarck“ gewidmet wird. Richard Wagner, selbst Teilnehmer der 1848er Revolutionskämpfe, erklärte nach der Gründung des Deutschen Reichs 1871 Beethovens Musik zur Grundlage der militärischen Tatkraft der „deutschen Heere“.

Und zu den Aufführungen von „Fidelio“ unter musikalischer Leitung von Wilhelm Furtwängler in Nazi-Deutschland schrieb Thomas Mann wütend aus dem Exil: „Welchen Stumpfsinn brauchte es, in Himmlers Deutschland den ‚Fidelio‘ zu hören, ohne das Gesicht mit den Händen zu bedecken und aus dem Saal zu stürzen?“

Die demoralisierten Vertreter der Frankfurter Schule wiederum bemühten Beethoven, um ihren Kulturpessimismus zu rechtfertigen. Theodor W. Adorno kritisierte nach der Machtübernahme Hitlers in den 1930er Jahren, das von der Eroica-Sinfonie vermittelte „Hochgefühl“ sei eine „Vorform der Massenkultur, die ihre eigenen Triumphe zelebriert“. (Adorno: Beethoven. Philosophie der Musik, Texte und Fragmente, Frankfurt a.M. 1993, S. 119) Hier hört man den Kern der Philosophie der Frankfurter Schule heraus, die die Aufklärung für gescheitert erklärt, weil die angebliche Empfänglichkeit der Massen für Autoritäres die faschistische Barbarei ermöglicht habe. Eine Kunst, die Emotionen anspreche, sei daher gefährlich.

Beethovens Spätwerk versuchte Adorno im existenzialistischen Sinne zu interpretieren. Seine Auffassungen über Beethoven sind in Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“ dokumentiert. Eine Szene schildert dort eine wahre Begebenheit. Adorno (im Roman Wendell Kretzschmar) hatte Thomas Mann im kalifornischen Exil besucht, ihm die Sonate Op. 111 am Flügel vorgespielt und erläutert: „Wo Größe und Tod zusammenträten […], da entstehe eine der Konvention geneigte Sachlichkeit, die an Souveränität den herrischsten Subjektivismus hinter sich lasse“ und die „ins Mythische, Kollektive groß und geisterhaft eintrete“. (Mann, Doktor Faustus, Frankfurt a. M. 2001, S. 73)

Adrian Leverkühn, die Hauptfigur des Romans, erklärt später zur Neunten Sinfonie Beethovens: „Um was die Menschen gekämpft, wofür sie Zwingburgen gestürmt, und was die Erfüllten jubelnd verkündet haben, das soll nicht sein. Es wird zurückgenommen. Ich will es zurücknehmen.“ (DoktorFaustus, S. 633)

Bis heute stützen sich Musikjournalisten und -wissenschaftler auf die demoralisierte Diktion, die Adornos Position zugrunde liegt. Ein Beispiel lieferte der Zeit-Redakteur Alexander Camman in seinem Artikel zum Beethoven-Jahr mit dem zynisch gemeinten Titel „O Freiheit“. Er bemüht sich, Beethoven als Anhänger der Französischen Revolution zu diskreditieren, verweist spöttelnd auf dessen finanzielle Abhängigkeit von adligen Kreisen und zitiert am Ende zustimmend ein Gedicht zu „Fidelio“ von Albrecht Haushofer, der im Gefängnis von Berlin-Moabit noch im April 1945 von der SS erschossen wurde. Freiheitstöne gebe es im Leben nicht, schreibt dieser: „Da gibt es nur ein lähmendes Verharren./ Danach ein Henken, ein Im-Sand-Verscharren.“

Vor zwei Monaten attackierten die Süddeutsche Zeitung und andere führende deutsche Medien Igor Levit, der alle 32 Beethoven-Sonaten bei Sony Classical eingespielt und bei den diesjährigen Salzburger Festspielen live aufgeführt hat, mit antisemitischen Motiven. Der 33-jährige Pianist, der sich auch gegen das Wiederaufleben des Neonazismus in Deutschland engagiert und während dem Corona-Lockdown durch Online-Konzerte und einen Podcast des Bayrischen Rundfunks Zehntausende für Beethoven begeistert hatte, war den herrschenden Kreisen offensichtlich ein Dorn im Auge.

Die WSWS kommentierte damals:

Der Angriff auf Levit hat eine politische und kulturelle Bedeutung, die über die Grenzen Deutschlands hinausgeht. Die herrschende Klasse fürchtet gesellschaftlich bewusste und politisch engagierte Künstler, die sich für die Hebung des kulturellen Niveaus der Arbeiterklasse einsetzen.

Levit ist nicht nur wegen seiner politischen Haltung zur Zielscheibe der Rechten geworden. Sein Bemühen, die Werke Beethovens und anderer Komponisten breiten Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen und damit das Interesse an der Kultur insgesamt zu steigern, wird von der herrschenden Klasse nicht nur mit Argwohn, sondern auch als Bedrohung betrachtet.

Der Größe Beethovens können diese Angriffe nichts anhaben. Gerade in der Corona-Pandemie mehrt sich die Wut über Ungleichheit, Ausbeutung, Unterdrückung und rassistische oder antisemitische Hetze. Die Freiheitstöne Beethovens klingen so aktuell wie lange nicht mehr.

Die wahre Erbin von Beethovens Musik ist die sozialistische Arbeiterbewegung, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Ideale der französischen Revolution in eine neue Zeit trug. Friedrich Engels, tief beeindruckt von einer Aufführung der Fünften Sinfonie, erklärte Beethoven zum Vorbild aller Unterdrückten. 1905 organisierte der spätere Führer der Münchner Räterepublik Kurt Eisner vor Dreitausend Arbeitern im Saal einer Berliner Brauerei ein Konzert mit der Neunten Sinfonie. Auch später gab es immer wieder Konzerte mit Beethovens Musik, die Tausende Arbeiter besuchten.

Bereits in seiner Zeit wirkte Beethovens Musik auf die unterste Schicht der Gesellschaft. Dieter Rexroth zitiert in seiner lesenswerten Monographie einen zeitgenössischen Bericht über ein Orgelkonzert in Godesberg 1791: „B[eethoven] fing nun an, Themata, die ihm die Gesellschaft aufgab, zu variieren, so dass wir wahrhaft davon ergriffen wurden; aber was weit mehr war, und den neuen Orpheus verkündigte: gemeine Arbeitsleute, die unten in der Kirche das durch Bauern Beschmutzte rein machten, wurden lebhaft davon afficirt, legten vor und nach Ihre Werkzeuge hin, und hörten mit Staunen und sichtbarem Wohlgefallen zu.“ (zitiert nach Rexroth, S. 51)

Beethovens Musik ist noch heute revolutionär. 250 Jahre nach Beethovens Geburt reagieren junge Solisten und Ensembles mit frischer Neugier und Begeisterung auf Beethovens Musik. Sie repräsentieren eine neue Zeit des Aufbruchs, in der die Aufgabe, eine menschliche Gesellschaft ohne Klassenprivilegien zu schaffen, gelöst werden kann und muss.

Musikbeispiele

Die folgenden Musikbeispiele, alle abrufbar auf Youtube, geben einen Einblick in Beethovens umfassendes Werk. Es gibt unzählige weitere empfehlenswerte Aufnahmen.

[1] Fidelio: James Levine dirigiert den Gefangenenchor an der New Yorker Met; Jonas Kaufmann singt die Arie des Florestan

[2] Neunte Sinfonie, 4. Satz mit der „Ode an die Freude“, Daniel Barenboim dirigiert das West-Eastern Divan Orchestra

[3] Fünfte Sinfonie, dirigiert von Christian Thielemann

[4] Klaviersonate Nr. 1, op. 2,1, f-Moll, gespielt von Igor Levit bei den Salzburger Festspielen 2020

[5] „Sturmsonate“ op. 31,2, 1802, interpretiert von Rudolf Buchbinder

[6] Klaviersonate „Appassionata“ op. 57, F-moll interpretiert von Claudio Arrau

[7] „Große Fuge“ für Streichquartett op. 133 gespielt vom Alban Berg Quartett

[8] Klaviersonaten Op.109,110,111, Liveaufnahme von Swjatoslaw Richter, Leipzig 1963; Klaviersonate Op. 111 gespielt von Alfred Brendel.

Loading